Samstag, 2. Mai 2015

Der Überfall


Sie überfielen die Schule um 10:42. Das hatte weder den Grund, dass 42 die einzige Antwort auf alles ist (wodurch es somit der eigentliche Grund sein müsste) oder dass die Quersumme dieser Uhrzeit die magische Zahl 7 ist, sondern einfach den Grund, dass um 10:42 die meisten Schüler und Lehrer in der Schule sind und Unterricht haben.
Für das Vorhaben, eine große Menge Geiseln zu nehmen, war diese Zeit also perfekt. Doch nicht nur die schiere Anzahl jugendlicher Geiseln war perfekt, sondern auch, dass alle von ihnen Angehörige oder zumindest einen Vormund oder wenigstens irgendwen haben mussten, der sich auf irgendeine Weise für die Kinder interessiert, und den es somit emotional berühren musste, dieses Kind in der Gewalt von Geiselnehmern zu wissen. Und sogar Lehrer sollen ja Freunde oder dergleichen haben.
Die auf das Stadtbild bezogen sehr zentrale Lage der Schule war vollkommen irrelevant. Man hatte über 1500 Geiseln in einem abriegelbaren Gebäude. Was sollte passieren? Natürlich hatte das Gebäude viele Eingänge, doch wenn man an jeder Tür eine fernzündbare, überwachte Bombe anbrachte, spielte das keine Rolle mehr. Das Schulhaus war also sicher. Zumindest für die Angreifer.
Als sie die Schule betraten, waren sie perfekt vorbereitet. Jeder der 50 wusste, was er wo zu tun hatte. Der Plan sah vor, so viele unbeachtete Eingänge wie möglich ohne Aufsehen zu verbomben. Man hätte damit einen Vorsprung bei dem Zeitpunkt der Entdeckung des Vorhabens.
Sobald dieser erste Schritt abgeschlossen sein würde, sollte das Sekretariat und die zentralen Büros mitsamt den sich dort befindlichen Führungspersonen übernommen werden. Die Tatsache, dass sich just an diesem Tag ein hochrangiger Beamter des Kultusministeriums in der Schule befand, war ein seltener Glücksfall für die Aggressoren. Sie wussten zwar im Vornherein nichts davon, nahmen es aber bereitwillig zur Kenntnis. Sofern auch das geschehen war, sollte eine Durchsage die sich im Haus befindlichen Schüler und Lehrer über ihre missliche Lage aufgeklärt werden. Sie sollte sich ruhig verhalten und warten, aus ihren Klassenzimmern abgeholt zu werden. Verstecken sei zwecklos, das ganze Gebäude werde durchsucht werden. Nach dieser Durchsage wurden alle übrigen, noch benutzbaren Eingänge verschlossen. Schüler und Lehrer, die zu diesem Zeitpunkt Freistunden hatten, wurden gefangengenommen und zu den zentral gelegenen Sammelplätzen gebracht, wo auch die übrigen Massen aus den Lehrräumen getrieben wurden. Pro Stockwerk gab es einen solche Sammelplatz.
Bis zu diesem Schritt klappte der Plan perfekt. Alle Eingänge waren abgeriegelt und überwacht, die wichtigen Büros waren gekapert, die Geiseln zusammengetrieben. Nun sollte das Schulhaus auf verbliebene Geiseln abgesucht werden. Die meisten der Geiselnehmer blieben zur Überwachung bei den Schülern und Lehrern, die restlichen durchsuchten in Zweierteams das Gebäude. Aufgrund ihrer gründlichen Planung kannten sie den Grundriss und den Aufbau des Hauses in-und auswendig und gingen entsprechend zielstrebig und konsequent vor.
Das Team, den fünften Stock untersuchte, kam relativ gut voran. Dieses Stockwerk war im Vergleich zu den darunter liegenden wesentlich übersichtlicher. Es war kleiner, hatte weniger Räume und wurde weniger benutzt. Jedoch konnte man es nur durch einen separaten, kleinen Aufzug und eine Feuertreppe an der Gebäudeaußenseite erreichen. Da der Aufzug gut gewartet war, erreichte das Team problemlos die gewünschte fünfte Ebene. Die Durchsuchung verlief genauso ereignislos.
Eine entsprechende Meldung wurde gemacht und das Team kehrte zum Aufzug zurück. Dieser befand sich am eine eines das gesamte Stockwerk durchlaufenden Ganges. Als das Team besagten Gang zur Hälfte zurückgekehrt war, blieb einer abrupt stehen. Sein Kollege drehte sich erstaunt um und wurde auf die offene Tür des Fahrstuhls aufmerksam gemacht. „Wir haben doch einen gefunden“, setzte Teammitglied 1 als Meldung ab, während sich auf der Stirn über seinen aufgerissenen Augen Schweißtropfen bildeten.
Und das hatten sie wirklich. In der offenen Tür des Aufzugs stand ein Jugendlicher. Er wirkte wie ein gewöhnlicher Teenager. Zugegeben, er war relativ groß, sogar fast zwei Meter mit Schuhen. Aber das machte keinen besonderen Eindruck auf die Teammitglieder. Der Junge trug eine dunkle Jeans, feste Schuhe, ein kariertes Hemd und darüber eine graue Kapuzenjacke. Sein Körperbau wirkte athletisch, gewiss, aber auf keinen Fall bedrohlich durch Muskelmasse oder dergleichen. Sein schmales, fein geschnittenes Gesicht wurde von kurzen dunkelbraunen, fast schwarzen Haaren gekrönt. Die Augen lagen im Schatten. Alles an diesem Jungen schien gewöhnlich. Er war höchstwahrscheinlich ein Schüler der höheren Jahrgangsstufen. Zwei Dinge aber wollten so überhaupt nicht in dieses Bild passen.
Das eine war die Ausstrahlung, die von dem Jungen ausging. Garnicht verängstigt oder zumindest verwundert über die Situation, stattdessen unverrückbar, wild und stark. Seine Aura durchdrang den Raum, füllte ihn komplett aus. Es war unmöglich, sie zu ignorieren. Der Jugendliche schien allein durch seine pure Existenz Macht auszustrahlen. Das Selbstbewusstsein war unweigerlich spürbar, forderte Respekt und Aufmerksamkeit. Diese Ausstrahlung war so stark, dass sie Gefühle zu transportieren schien und diese zu manipulieren im Stande war. Die Tatsache, dass das Team dies erst jetzt, nachdem sie schon die Hälfte des Flurs zurückgelegt hatten, sprch dafür, dass der Junge erst in diesem Moment an seinem Standpunkt aufgetaucht war.
Das zweite absolut ungewöhnliche war, dass der Junge ein Schwert in der rechten Hand hielt. Dieses Schwert war schwarz, kaum wahrnehmbar, so dunkel, dass es das Licht einzusaugen schien. Seine Form erinnerte an ein japanisches Katana, war jedoch größer, böser. Es steckte im Kontrollkasten des Fahrstuhls, aus dem Funken sprühten, als ob er gerade noch funktioniert hätte, ein weiteres Indiz für das plötzliche Auftauchen des Teenagers.
Der Junge sah auf. Seine Augen waren von der gleiche schwarzen Farbe und Unbeschreibbarkeit wie seine Waffe. Sie schienen alles Licht, alle Wärme einzusaugen, und doch strahlten sie etws aus, das ebenso ungreifbar wie angsteinflößend war. Langsam, ganz langsam und bedacht, zog der Junge sein Schwert aus dem immernoch funkensprühenden Kasten. Unentwegt lag sein Blick auf den beiden Teammitgliedern. Sie waren erstaunt, verblüfft. Für den Fall, jemanden zu finden, hatten sie sich ein kleines, verängstigtes Häufchen Elend vorgestellt, dass allen ihren Befehlen ohne Widerstand Folge leisten würde. Stattdessen stand 50 Meter vor ihnen dieser Junge. Mit einer Waffe, wie sie sie noch nie gesehen hatten.
„Hey!“, rief Teammitglied 1. „Wie heißt du?“
„Kann dir egal sein“. Die Stimme des Junge klang menschlich. Immerhin. Sie war kühl, durchsetzt mit Ironie und Spott, das Gefühl von Überlegenheit sprach daraus, genauso wie Belustigung.
„Es ist mir aber nicht egal“, rief Nummer 1. „Wirf dein Schwert her und komm mit. Wir bringen dich zu deinen Mitschülern. Man sollte nicht mit gefährlichen Dingen spielen!“. Während dieser Worte zogen er und sein Partner ihre Maschinenpistolen. „Die sind geladen, Kleiner! Also hör auf mit dem Scheiß!“ Seine Stimme zitterte.
Der Junge grinste kurz. „Nein“, sagte er leise, aber bestimmt.
„Nein?! Das war keine Frage, Bürschchen! Übertreibs nicht! Wir sollen dich nr zu den anderen bringen. Also lass dich mitnehmen und hör auf den Helden zu spielen!“
„Ich spiele keinen Helden. Ich bin kein Held. Ein Held würde euch entwaffnen, fesseln und dann liegen lassen. Ich … ich töte euch.“
„Waaah … lass den Scheiß, hab ich gesagt! Wir erschießen di..“
Aus einem Lautsprecher kam plötzlich Musik. Es war „The Happy Song“ von Poets of the Fall. Nicht, dass das Team das gewusst hätte. Es spielte auch keine Rolle.
Der Junge grinste jetzt breit. „Ahhhhh …“, seufzte er und warf den Kopf nach hinten. Dann riss er sein Schwert hoch, blickte nach vorn auf seine beiden Gegner. Und er rannte los, laut lachend.
Nummer 1 und 2 wussten nicht wie ihnen geschah. Aus den Lautsprechern dröhnte „I told you I`m a Psycho“ und ein Wahnsinniger stürmte bewaffnet mit einem schwarzen Schwert auf sie zu. Sie feuerten. Die Kugeln prasselten aus den Pistolenmündungen in Richtung des Heranstürmenden.
Plötzlich war ihnen, als erlebten sie alles wie in Zeitlupe. Sie konnten ihre eigenen Kugeln fliegen sehen. Als die Projektile den Jungen erreichten, bewegte dieser sich auf einmal irrsinnig schnell. Er wirbelte seine Waffe herum und blockte alle Kugeln ab. Sein Grinsen verwandelte sich in ein Lachen. Und dann war er da. Zwischen ihnen. Ein schwarzer Blitz. Rasend. Tödlich.

„Really I´m a Pycho“. Die Erinnerung setzte aus.


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